Haydn, Joseph - Einleitung zum Oratorium "Die Schöpfung", Hob. XXI/2

In gewisser Weise gibt Haydn mit der Betitelung der Einleitung zu seinem Oratorium "Die Schöpfung" der Nummer einen thematischen Grundton: "Die Vorstellung des Chaos". Aber wie stellt man sich das Chaos vor? Wie stellen SIE sich das Chaos vor? Eine schwierige Frage.

Sollten Sie Kinder haben, ist die Vorstellung vielleicht etwas leichter. Man lasse die Kleinen eine halbe Stunde unbeaufsichtigt, und das Chaos ist perfekt. Wenn nicht sogar schon früher. Aber das ist hier nicht gemeint. Es geht um das Chaos. Jenes... was auch immer..., das vor der Schöpfung bestand, vor dem Urknall, von dem die Astrophysik heute einhellig ausgeht, dass er stattfand. Können SIE sich vorstellen, wie es davor aussah? Wenn Sie es nicht können, seien Sie nicht beunruhigt. Niemand kann das. Selbst für Astrophysiker, die sich ja beruflich mit dererlei Fragen beschäftigen, ist dieses "Davor" ein auf ewig unergründliches Rätsel. Wie groß und unüberwindlich muss daher Haydn die Aufgabe empfunden haben, das im wahrsten Sinne des Wortes "Unvorstellbare" zu beschreiben, und zwar nicht nur einfach in Worten, sondern in Musik. Einer Sprache, die angeblich jeder versteht, die aber doch in jedem von uns ganz eigene Bilder auslöst. Und doch soll jeder sagen können: "Ja, das ist das Chaos". DAS Chaos. Eine schier unlösbare Aufgabe. Ein Paradoxon.

Das war auch Haydn und seinen Zeitgenossen bekannt. So schrieb der französische Musiktheoretiker Jérôme Joseph de Momigny (1762-1842) in seinem "Cours complet d'harmonie..." von 1806: "Dieses Oratorium ist eines der schönsten Werke dieses grossen Mannes. Doch scheint er an einigen Stellen vergessen zu haben, dass selbst das Chaos sich in der Musik nur nach den Gesetzen der Harmonie schildern lässt. Denn ausser diesen Gesetzen gibt es kein Heil oder vielmehr keine Musik, sondern bloss ein misstönendes Geräusch, das nicht schildert, sondern die Ohren zerreisst, das gesunde Gefühl und die Vernunft beleidigt. Ein so grosser und erhabener Schilderer Haydn auch ist, es gibt doch Dinge, die er nicht erreichen kann, weil sie überhaupt der Musik unzugänglich sind."

Die ungewöhnlich zahlreichen Skizzen, welche in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und in der New York Public Library aufbewahrt werden, zeigen uns daher auch, wie schwer Haydn die Komposition der Einleitung fiel. Sie dokumentieren einen extrem mühsamen Weg zur endgültigen Fassung. Von Anfang an jedoch steht die grundlegende Idee des eröffnenden Unisono-Klanges auf der Note c, das anschliessende Hinzutreten der kleinen Oberterz und eine Abwärtsbewegung in kleinen Sekunden fest. Die definitive Fassung exponiert das eröffnende c forte über vier Oktaven im vollen Orchester und lässt es unter einer Fermate zeitlich unartikuliert im Nichts verklingen. Ungewöhnlich, dass Haydn als ersten Eindruck des Chaos nur einen einzigen Ton wähl.

Haydn war nicht der erste Komponist, der sich dieses Themas annahm. Zum Beispiel schuf Jean-Féry Rebel, ein französischer Komponist und Violinist, im Jahre 1737 eine symphonie de danse "Les Elémens", und sie eröffnet ebenfalls mit dem "cahos". Und man kann davon ausgehen, dass Haydn diese Symphonie kannte. Aber was für einem Chaos präsentiert uns Rebel da! Man kann sich die Radikalität, mit der Rebel umging, heute gar nicht mehr vorstellen, denn es beginnt mit dem wohl schauerlichsten Akkord, den der Barock wohl jemals hervorgebracht hat: einem Cluster, der durch seine Zusammensetzung aus ALLEN Noten der harmonischen d-Moll-Tonleiter in jede heutige zeitgenössische Komposition passen könnte. Und auch heute noch fasziniert die Radikalität des Klanges dieses Akkordes, den Rebel dem Hörer zumutet.

 
Was Rebel damit bezweckte, lässt sich heute leicht erklären, denn er liefert zu seiner Symphonie ein seitenlanges Avertissement, das mit vielen Details Angaben zum Stück macht und als sein Programm bezeichnet werden kann. Unter anderem gibt er dort seine Definition von Chaos preis: es ist die Verwirrung der Elemente, bevor diese, unveränderlichen Gesetzen unterworfen, ihren vorgeschriebenen Platz in der Ordnung der Natur einnahmen. Das Chaos ist für Rebel also ein Durcheinander von schon Vorhandenem. Es ist eine Ansammlung von Molekülen, von Einzelteilen, von Elementen in einem  heillosen Durcheinander, die aber eben schon von Beginn an existieren. Sie sind zwar noch nicht am rechten Platz, kämpfen aber miteinander darum, bis sie sich im débrouillement endgültig voneinander entwirren. Lässt er zu Beginn alle Noten einer Oktave zusammen erklingen, so zerstört er zwar die Harmonik, zeigt aber seine Vorstellung, dass alle Bestandteile derselben schon vorhanden sind, jedoch ohne Ordnung.

Haydn hingegen entwickelt seine Chaosvorstellung aus einer leeren Oktave, quasi aus einem einzigen Ton. Es geht ihm nicht um die Negierung von Ordnung, also ein Durcheinander, sondern den Zustand, der vor jeglicher Ordnung bestand. Momigny hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es an sich ein Paradoxon sei, das Chaos in der Musik mit Hilfe einer regelhaften, gesetzmässigen Harmonik darzustellen. Und gerade deshalb lässt sich Haydn auf dieses Spiel mit der Harmonik auch gar nicht ein. Natürlich liefert Haydn laufend verminderte Akkorde, frei eintretende Dissonanzen und unerwartete, überraschende Modulationen. Aber indem er sie nutzt, dividiert er eben die geregelte Sprache der Wiener Klassik in ihre Moleküle auseinander. Leittöne, Rouladen, Melodiefetzen, Triller, Trugschlüsse usw. purzeln frei durcheinander, ohne unter einen grossen, sinngebenden Bogen gestellt zu sein. Haydn bewegt sich letztendlich wirklich nur im Rahmen der - zumindest nicht exorbitant ungewöhnlichen - Harmonik, nutzt aber genau das, um eben die Form zu zerstören. Es geht Haydn in seinem Chaos nicht darum, eine "chaotische Harmonik" zu präsentieren, sondern ein "formloses Chaos". Natürlich könnte man musiktheoretisch herleitet, dass sich unter dem Chaos an sich doch die dreiteilige Liedform befindet, aber selbst wenn dem so wäre, so tut Haydn doch alles, um die Form zu verschleiern. Es soll bei ihm - in einer Zeit, in der musikalisch die Form sinnstiften war - keine Form geben, wissend dass es am Anfang der Schöpfung gab eben keine Form gab: "Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war ohne Form und leer, und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe." Und erst jetzt, aus dieser Formlosigkeit heraus, kann der göttliche und urgewaltilche Schöpfungsakt erfolgen: "Und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser, und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward LICHT!" Und mal ganz ehrlich: welche Gottgewaltigkeit spricht aus diesem Haydn'schen Choreinsatz!

Wenn wir am Ende an den Anfang der Einleitung zurückkehren, an jenes c, dass sich ohne Zeit im Nichts verliert (denn so endet das Vorspiel auch), dann erkennen wir, dass Haydn letztendlich mit seiner Vorstellung auch näher am Ursprung des Wortes "Chaos" ist, wie es sich in der griechischen Mythologie findet: Chaos bezeichnet dort, zumindest bei [[Hesiod]], "keine Gottheit, sondern nur ein leeres 'Gähnen': eben das, was von einem leeren Ei bleibt, wenn man die Schale wegnimmt."

Ulrich Witt


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